Man kann sich die Gemälde des Künstlers Lionel Dzidzi wie Echoräume vorstellen. In ihnen hallen Malerei- und Kolonialgeschichte ebenso nach wie Musik, Mythologie und menschliche Beziehungen. Es sind die Echos von Ekstase und Depression, von Intimität und Gewalt, von Harmonie und Chaos, von kollektiven, politischen und sozialen Realitäten, die aufeinander reagieren und sich gegenseitig beantworten, überlagern und übertönen. Die malerisch konstruierten Räume öffnen sich an der einen Stelle, um sich an der nächsten wieder so zu verdichten, dass sie regelrecht zu bersten scheinen. Die mit Pinsel und Pastellkreide gesetzten Linien bilden ein flirrendes All-Over von ineinander verstrickten Notationen und gekritzelten Denkwirbeln. Aus diesem Durcheinander kristallisieren sich nach und nach Raster und Fenster heraus, die abstrakten Flächen setzen sich zu Gerippen und Gesichtern zusammen, zu Ästen und Bäumen, Bestien und Vögeln. Daneben nutzt Dzidzi ein ganzes Arsenal von Zeichen und Symbolen, die immer wieder auftauchen: Warnschilder, Uhren und Räder, Herzen und Sterne. Die Farbe selbst versetzt Dzidzi in unterschiedliche Zustände: Mal verschwimmt sie fleckig wie der Himmel in Kinderbüchern, mal scheint sie flammend heiß, mal wässrig, mal wirkt sie verklumpt und erdig schwer, mal körperlich präsent wie ein sehniger Muskel. Die Bildwelten von Lionel Dzidzi sind geisterhafte Welten, bevölkert von den Wiedergängern des westlich-weißen Kunstkanons der Moderne und Nachkriegsmoderne, dem Abstraktem Expressionismus und der deutschen neo-expressiven Malerei der 1980er Jahre. Über allem thront der Godfather der Malerei, Picasso, neben Anleihen an Dubuffet und die Art Brut. Die ölig-schwarzen, melancholischen Konturlinien scheinen dem Spätwerk Max Beckmanns entnommen, andere Formen erinnern an die spirituell-volkstümliche Malerei von Marc Chagall oder sind fleischlich-überbordend wie bei Willem de Kooning. Auch die Riege der Malerfürsten von Georg Baselitz über Markus Lüpertz und Julian Schnabel bis hin zu Michel Basquiat ist vertreten. Michel Basquiat wird auf einem Gemälde in Form einer geköpften Königsfigur zitiert, die – gedoppelt wie auf einer Tarot-Karte – zu Boden gestürzt ist, neben sich eine mythische, heilige Flamme. Auf Basquiat verweist das scheinbar Improvisierte, das den Arbeiten zugrunde liegt und das gleichzeitig von der Musik inspiriert ist. So zeigt sich unter anderem das Stilmittel des Call and Response, das im Jazz, Blues und Gospel begründet liegt und in der die unterschiedlichen Akteure mit ihren Melodien aufeinander reagieren. Auch bei Dzidzi gibt es dieses vielstimmige Echo.

1999 im post-sozialistischen, noch vom Bürgerkrieg gezeichneten Mosambik geboren, verliert Lionel Dzidzi schon früh seine Eltern und kommt in die Familie seiner Tante, wobei sein Cousin sein künstlerisches Talent erkennt. Während es in der öffentlichen Schule keinen Kunstunterricht gibt, bekommt Dzidzi Anfang der 2000er als 12-jähriger bei einer deutschen NGO über Jahre hinweg Malunterricht. Sein Tutor hat in Europa studiert und bringt ihm den eurozentrisch definierten Kanon der Gegenwartskunst nahe, in dem für ihn der österreichische Maler Friedensreich Hundertwasser eine bedeutende Rolle spielt. Während dieser Zeit zieht Dzidzi seine Inspiration aus der schwarzen Musik der USA, dem kubanischen und brasilianischem experimentellen Jazz. Er geht nach der Schule in die Hauptstadt Maputo, wo er Musik macht und weiter malt. Schließlich gewinnt er einen Kunstpreis, der ihm die Reise nach Deutschland ermöglicht, wo er nach einem erneuten Aufenthalt in Maputo schließlich beginnt, in Berlin bei Thilo Heinzmann zu studieren. Die Entstehung der Werkgruppe, aus der auch die titelgebende Arbeit Golden Lungs (2020) stammt, setzt zu Beginn der Corona-Pandemie ein. Die dargestellten Innenräume und die menschlichen Figuren wirken fragmentiert und amorph, die Bilder sprechen von Isolation, einer Art Blase, in der sich eine fantastische, sehnsüchtige, aber auch exzessive, verdrogte Welt entwickelt, die voller Unbehagen und Abgründe ist. Der Begriff „Golden Lungs“ wurde von Dzidzi selbst erschaffen. Als Freunde ihm sagten, er solle weniger rauchen oder kiffen, antwortete er ironisch, seine Lungen seien golden, also unzerstörbar. „Golden Lungs“ ist ein Synonym für das bis an die Grenze gehen, das Checken, wieviel man verträgt, ohne daran zu sterben, den Unwillen aufzuhören. Interessanterweise verfolgt Dzidzi in seiner oft exzessiven Malerei einen ähnlichen Ansatz – auszubrechen und so weit zu gehen wie möglich. Die semi-abstrakte Figur auf Golden Lungs ertrinkt fast in dem vollgemalten Gemälde. Das Gesicht, mit einer eingeklemmten Zigarette im Mund, ist so exzessiv überzeichnet und übermalt, dass es fast zerstört ist, kaputt gemalt, kaputt geraucht. Dzidzi, dessen Duktus und Sinn für Farbe virtuos sind, hat ein Bild wie einen Stresstest gemacht. Es geht um einen Overload, den man erträgt, um eine ultimative spirituelle Erfahrung zu machen, selbst wenn die einen das Leben kosten kann. Golden Lungs ist ein suizidales Junkie Bild, aber auch eine Zustandsbeschreibung des auslaufenden Anthropozäns, die tickende Uhr wird buchstäblich ins Bild gehalten. So wie das Zimmer Im Lockdown zugleich vertrauter Schutz und Gefängnis ist, ist es auch die westliche Malerei, die Dzidzi seit seiner Jugend verinnerlicht hat. Er versucht daraus genauso auszubrechen, wie aus seiner Rolle als „schwarzer Maler“, sie zu transzendieren, zu überwinden. So wie Dzidzi in seiner Malerei über Entfremdung, innere Dämonen und Fluchten, eine geradezu romantische Todessehnsucht erzählt, vermittelt er eine utopische, ungeheure Sehnsucht nach Freiheit und Veränderung, nach De-Kolonialisierung. Seine Malerei ist eine Malerei über das Unbehagen in der Malerei.

Untitled, 2020

Oil on canvas

138 x 138 cm

Untitled, 2022

Oil on canvas

160 x 150 cm

Crowned One, 2020

Oil on canvas

100 x 100 cm

 

Untitled, 2022

Oil on canvas

140 x 140 cm